interpretation

Aus diesen Ausfüringen wird nun auch ersichtlich, daß sich die deutende Tätigkeit des Editors auf zwei verschiedene Bereiche erstreckt: Zum einen meint sie die Erfassung des Textsinns; ohne Sinnentwurf können die einzelnen ‘Buchstaben und Zeichen’ auf dem Blatt nicht gelesen und – vor allem – nicht als zugehörig zu einem (alle Einzelzeichen in sich vereinigenden) Text festgestellt werden. Lesen als ein Wahrnehmen des Textes ist – aus der Sicht des Rezipienten – nichts anderes als Sinnzuweisung; nur mit diesem Akt kann der Herausgeber z. B. zu verschiedenen Werken gehörende Texte auf einem Blatt voneinander scheiden. Zu dieser grundlegenden Wahrnehmung der Sinndimension tritt nun in der editorischen Analyse eines Zeugen als zweites die genetische Deutung des Gelesenen: Der Entwicklungsprozeß des Textes wird vom Textologen bestimmt, indem er nicht nur das Syntagma eines einzelnen Textzustandes, zu dem sich einzelne ‘Buchstaben und Zeichen’ auf dem Blatt zusammenschließen, sondern auch das ‘paradigmatische’ Nach- und Zueinander der Varianten, die räumliche Konstellation und die chronologische Folge der sich verändernden Fassungen desselben Textes auf dem Zeugen wahrnimmt. Und wie nun Sinndeutung und genetische Interpretation des Editors einen unauflösbaren Zusammenhang bilden, sind auch des einzelnen Stadien, des Schichten und Stufen, nur Aspekte eines umfassenderen editorischen Textbegriffs.

(Martens 1989, 14-15)

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