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Führte der Herausgeber einer wissenschaftlichen Edition bislang nur ‘Lesarten‘ an, um den Lesern zumindest im ‘Apparat‘ die Möglichkeiten an die Hand zu geben, seine textkritischen Entscheidungen zu überprüfen, hatte er nunmehr die Aufgabe, ‘Varianten‘ darzustellen, um die Entwicklung und Veränderungen eines Werkes zu dokumentieren. Was war nun in dieser neuen editorischen Situation ‘Text’? Konnte man noch an dem überkommenen vortheoretischen Gebrauch des Wortes festhalten oder mußte man nunmehr vom alltäglichen Verständnis abgehen und sich um einen schärferen, editionstheoretisch fundierten Begriff bemühen? Bis heute ist die Diskussion kontrovers, und es sind vor allem zwei Positionen, die sich in der jüngsten Auseinandersetzung gegenüberstehen: Zum einen wird Text als einheitliches, in sich abgeschlossenes Sprachgebilde und damit als etwas Feststehendes aufgefaßt; ‘Varianten’ gehören — anders als ‘Lesarten’ — nach diesem Verständnis nicht zum Text, sondern sind als Abweichungen von diesem Text einem weiteren Text desselben Werkes zuzuordnen. Zum anderen wird Text als Komplex aller zu einem Werk gehörenden Fassungen und Abweichungen verstanden. Dem auch außerhalb der Textphilologie verbreiteten Begriff der ‘Textfassungen‘ (= verschiedene Fassungen eines Textes) liegt genau diese Auffassung zugrunde: Varianten konstituieren demnach nicht verschiedene Texte, sondern verschiedene Fassungen eines Textes; der Prozeß der Veränderungen –soweit in der Überlieferung dokumentiert — ist somit in diesem Textbegriff mit eingeschlossen, die dynamische Charakteristik gehört zum Wesen des Textverständnisses.